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Mittsommer - zwischen Licht und Schatten

Wir modernen Menschen haben uns daran gewöhnt, dass uns Licht jederzeit auf Knopfdruck zur Verfügung steht, auch im tiefsten Winter. Aber das war nicht immer so. In früheren Zeiten haben die Menschen die Mittsommerzeit als die Zeit des kaum endenden Lichts und des Wachstums gefeiert. Wenn die Tage lang und die Nächte kurz sind, stehen wir im Licht. Wir können diese Fülle des Lichts nutzen, um auch auf die Bereiche unseres Selbst zu schauen, die wir als weniger lebensförderlich erleben und für die wir uns nach Veränderung sehnen. Das Licht dieser langen Sommertage ist wie eine Taschenlampe, in deren Schein wir uns trauen können, auch die dunklen Schatten in uns anzuschauen. Und wenn wir den Mut zum Hinschauen finden, dann ist Veränderung möglich.

Davon dass Veränderung Zeit und Geduld und manchmal auch Unterstützung von außen braucht, weiß eine meiner Lieblingsgeschichten zu berichten, die ich schon oft und an unterschiedlichen Orten erzählt habe. Ursprünglich ist es - soweit ich weiß - eine Geschichte der indigenen Einwohner Südamerikas. In erzählerischer Freiheit hab ich mir erlaubt, sie in meine Heimat nach Ostholstein zu holen.

Die Ratte, die sich fledermausen wollte

Dort wo ich wohne, in Ostholstein an der Ostsee, gibt es viele alte Kirchtürme, in denen Fledermäuse leben. Und es gibt viele alte Pfarrgärten, in denen auch die eine oder andere Ratte lebt.

Ich will euch erzählen von solch einer Ratte, die ein wenig in die Jahre gekommen war.  Ihr graues Fell, das einst wie Silber geglänzt hatte, war stumpf und matt geworden.  Ihr langer Rattenschwanz ragte schon längst nicht mehr kerzengerade in den Himmel, sondern hing schlaff und schlapp herunter wie ein verdurstetes Gänseblümchen. 

Auch merkte die Ratte, dass sie nicht mehr so schnell war wie früher. Vor ein paar Tagen hätte der dicke, olle Kater vom Pastor sie beinahe erwischt. Nur mit knapper Not und einem verzweifelten Sprung hatte sie sich unter die hohle Wurzel eines Baumes retten können. Tagelang hatten ihr danach die Pfoten wehgetan.

 

So wollte die Ratte nicht mehr leben.  „Ich will mich verwandeln“, sprach sie zu sich selbst. „Ich will im Dunkeln sehen können und selbst nicht gesehen werden. Ich will fliegen, leicht und schnell wie das Wehen des Windes an einem Sommerabend. Und ich will tagein tagaus süße, reife Trauben essen. Ich will eine Fledermaus werden!“

 

Und so kletterte die Ratte mit einiger Mühe und schmerzenden Knien auf die Mauer im Pfarrgarten.  Über die Mauer hing der Ast einer ehrwürdigen Buche. Auf den kletterte die Ratte. Da hockte sie nun und schaute zitternd hinab in den Garten. 

Oh weh! So hoch hinaus hatte sie sich noch nie gewagt! Doch dann krallte die Ratte sich mit den Hinterbeinen fest um den Ast, ließ sich nach vorne fallen und hängte sich kopfüber in den Baum - ganz so wie sie es bei den Fledermäusen gesehen hatte, die tagsüber im Kirchturm schliefen. 

 

Da hing sie nun – kopfüber - und bekam … Hicks … einen gewaltigen Schluckauf.

Sie hing und hickste und bei jedem Hicks baumelte sie ein wenig hin und her. Unten schlich der dicke Kater vom Pastor durch das Gras und leckte sich die Schnauze. Und oben hickste die Ratte. 

Das bemerkte eine echte, richtige Fledermaus und kam neugierig herbei geflattert. 

„Was hängst du denn da rum? Du willst dich wohl lustig machen über mich und meine Art?“

„Aber nein, hicks“, antwortete die Ratte. „Ich will eine Fledermaus werden und fliegen können so wie du.“

Da flog die Fledermaus davon zu ihren Artgenossen oben im Kirchturm und sagte: „Dort unten im Baum hängt eine Ratte. Sie will sich in eine Fledermaus verwandeln. Also seid so gut und lasst sie in Ruhe, damit sie sich fledermausen kann.“

Als die anderen Fledermäuse das hörten, wurden sie neugierig: „Eine Ratte, die sich fledermaust! Das wollen wir uns anschauen.“ 

Und so flogen sie alle eine nach der anderen hinüber zu Pastors Garten, um die Ratte zu sehen, die sich da fledermauste. 

„Und Ratte? Hast du dich schon verwandelt?“, rief die eine Fledermaus. 

„Noch nicht“, antwortete die Ratte. „Aber gut Ding will Weile haben.“ 

Und im selben Moment fiel der krumm gewordene Rattenschwanz von ihr ab.

Am nächsten Tag kamen die Fledermäuse wieder: „Und Ratte? Hast du dich schon verwandelt?“ 

„Noch nicht ganz“, antwortete die Ratte. „Gut Ding will Weile haben.“ 

Die Ratte begann ihre Vorderbeine zu recken und zu strecken. Ihre alten morschen Knochen knackten und ächzten und wehrten sich.  Doch schließlich begannen sie zu wachsen, wurden lang und fein und biegsam wie Binsen. 

Am nächsten Tag kamen die Fledermäuse wieder: „Und Ratte? Hast du dich schon verwandelt?“

„Noch nicht ganz“, antwortete die Ratte. „Gut Ding will Weile haben.“ Und sie spürte, wie ihre Haut sich dehnte. Wie das zog und zerrte! Aber schließlich wuchs die Haut und spannte sich zart und durchsichtig wie Pergament über die feinen Knochen.  Endlich waren der Ratte zwei herrliche Flügel gewachsen!

Am nächsten Tag kamen die Fledermäuse wieder: „Und Ratte? Hast du dich jetzt verwandelt?“

„Verwandelt habe ich mich schon“, antwortete die  Flederratte. „Und fliegen möchte ich auch! Aber ich fürchte mich!“ 

„Fürchte, dich nicht, Ratte. Flieg ganz einfach los. Du wirst sehen. Es ist wunderschön!“

Doch die Flederratte fürchtete sich. Sie zitterte und bebte und blieb am Baum hängen. 

Unten im Gras machte es sich der dicke olle Kater bequem. Er hatte Zeit!

„Fürchte dich nicht. Ich werde dich unterrichten“, sagte die Fledermaus. Und sie hängte sich neben die Flederratte in den Baum. „Schau her! Du musst mit den Flügeln fächeln und die Angst vertreiben. Fächle! Fächle!“

Da fächelte die Flederratte. Sie fächelte und fächelte. Sie fächelte die Angst davon und dann flog sie. Sie flog. Und sie gewöhnte sich daran. Sie flog immer höher in den blauen Himmel. 

„Wunderschön ist es“, rief sie. „Wunderschön! Einfach wunderschön!“

Und die Fledermaus, die eine alte, müde Ratte gewesen war, flog.  Sie flog und sie konnte im Dunkeln sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Sie flog leicht und schnell wie das Wehen des Windes an einem Sommerabend. Und sie fraß tagein tagaus süße, reife Trauben.

 

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