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Die Segenspinnerinnen: Schönheit auf den zweiten Blick

Heute ist Halloween und wie jedes Jahr sind künstliche Spinnennetze ein beliebtes Deko-Accessoire im häuslichen Gruselkabinett. Spinnennetze gelten als ekelig und eben auch ein bisschen gruselig und ich gebe gerne zu, dass ich sie zwar gern im Garten, aber nicht unbedingt im Haus sehe. Aber gerade dort, im Garten, entfalten sie ihre ganze filigrane Schönheit. Spinnenseide - so habe ich gelernt - ist im Verhältnis zu ihrem Durchbesser reißfester als Stahl und elastischer als Gummi und wird deshalb in der Medizintechnik intensiv erforscht.

Spinnennetze passen für mich gut zu Halloween, weil sie ihre Schönheit ebenso wie dieses invasive Fest erst auf den zweiten Blick enthüllen. Mit Halloween als Grusel- und Gespensterfest kann ich tatsächlich wenig anfangen. Mit dem keltischen Ursprungsfest, Samhain, dagegen viel. Denn Samhain ist das Fest, mit dem im keltischen Verständnis das neue Jahr beginnt. Gewidmet ist das Fest aber vor allem dem Gedenken an die Vorfahren. Denn jeder neue Anfang kann nur gelingen, wenn wir uns eingebunden wissen in den Strom der Zeit, der lange vor uns beginnt und lange nach uns weitergehen wird. Die Erinnerung an die Vorfahren oder Ahnen ist auch in der christlichen Tradition tief verankert. Allerheiligen und Allerseelen, Volkstrauertag und Totensonntag - diese christlichen Festtage prägen den November und laden uns ein, uns diesem Strom der Zeit zu stellen. Das ist nicht immer nur schön. Vieles von dem, was mir meine Vorfahren hinterlassen haben, ist mindestens so ambivalent wie ein Spinnennetz. Und die Segnungen der Alten erkenne ich oft erst auf den zweiten Blick. Davon erzählt eine Geschichte, die vom fahrenden Volk Irlands überliefert wurde und die ich dir gern erzählen möchte:

Die Segenspinnerinnen

In ferner Zeit lebte in diesem Land eine Gemeinschaft von Frauen, die sich jeden Nachmittag trafen, um gemeinsam nach Wurzeln, Kräutern und Rinden zu suchen, die sie zum Färben benutzen konnten. Außerdem sammelten sie die Wolle ein, die die wilden Tiere in den Dornenranken von wilden Brombeeren verloren hatten.

Die Frauen waren alle in ihren besten Jahren. Sie trugen lange schwarze Kleider, die mit bunten Borten und Bändern verziert waren. Ihre von silbernen Fäden durchzogenen Haare hatten sie zu kunstvollen Zöpfen geflochten. Ihre Augen leuchteten und waren mit kleinen Lachfältchen geschmückt. Es waren schöne Frauen. Und es waren starke Frauen. Zusammen hatten sie sich eine Aufgabe gesetzt: Jeden Abend trafen sie sich an einem großen Feuer, über dem ein eiserner Kessel mit kochendem Wasser hing. In diesen Kessel warfen sie die Wurzeln, Kräuter und Rinden, die sie am Nachmittag gesammelt hatten und kochten daraus einen Sud. Mit dem Sud färbten sie die Wolle, die sie gefunden hatten. Egal ob die Wolle schwarz oder braun, grau oder weiß war - wenn sie aus dem Sud herauskam, leuchtete sie blutrot. Dann setzten sich die Frauen an ihre Spinnräder und sponnen die frisch gefärbte Wolle in ein kräftiges Garn. Aus dem Garn machten sie dicke Schnüre, in die sie Gebete und Segenswünsche hineinwebten. Jedes Kind, das auf der Welt geboren wurde, bekam solch eine Schnur und den Segen mit auf die Welt.

Während sie arbeiteten, sangen die Frauen Lieder der Hoffnung und der Freude. Sie arbeiteten die ganze Nacht hindurch bis zum Sonnenaufgang. Dann legten sie sich für ein paar Stunden schlafen, um am Nachmittag wieder ihre Weidenkörbe auf den Rücken zu schnallen und neue Wurzeln, Kräuter und Rinden zu sammeln. Tag für Tag machten sie weiter mit ihrer wunderbaren Arbeit. Und sie liebten, was sie taten.

Jahre, Jahrhunderte und Äonen vergingen und mit der Zeit wurden immer mehr Kinder auf der Welt geboren. Für die Frauen wurde es immer schwieriger, ausreichend rote Schnüre zu fertigen. Sie arbeiteten so hart wie sie nur irgendwie konnten, aber es war einfach unmöglich. Eines Abends, als sie wieder einmal abwechselnd den großen Kessel umrührten, kamen sie zu einem Entschluss: Sie würden gemeinsam eine einzige lange Schnur weben, die lang genug war, um die ganze Welt zu umspannen. So wäre die ganze Welt gesegnet und kein einziges Kind würde leer ausgehen.

Aber es war eine gewaltige Aufgabe, die sich die Frauen da vorgenommen hatten. Jeden Tag sammelten sie ihre Wurzeln, Kräuter und Rinden. Jeden Abend versammelten sie sich und färbten und sponnen und webten ihren Segen in die endlos lange Schnur. Vor lauter Arbeit vergaßen sie zu essen und zu schlafen. Mit der Zeit wurden die Frauen immer dünner. Ihre Finger wurden lang und schmal und schwarz von der Asche, die sie jede Nacht wegräumen mussten. Es war furchtbar heiß an dem brodelnden und zischenden Kessel und der Schweiß lief den Frauen von der Stirn. Ihre Schweißtropfen fielen auf die gefärbte Schnur und wusch die rote Farbe heraus, so dass die Schnur so grau wurde wie die Haare der Frauen. Mit der Zeit wurde die Schnur auch immer dünner. Irgendwann sah sie aus wie ein dünner Seidenfaden, aber noch immer war sie so stark wie die Frauen, die sie webten.

Die Frauen arbeiteten immer weiter. Sie konnten und wollten nicht aufgeben. Sie wurden immer schmaler, vor allem ihre Arme und Hände, die unablässig in Bewegung waren. Die bunten Borten und  Bänder auf ihren Kleidern verblassten. Einige behielten die Weidenkörbe, die sie zum Sammeln benutzten, Tag und Nacht auf dem Rücken. Und irgendwann waren die Körbe auf ihren Rücken festgewachsen. Mit der Zeit wurden die Frauen immer kleiner und irgendwann sahen sie aus, als würden sie nur noch aus langen, dünnen Fingern mit Körben auf dem Rücken bestehen.

Diese Frauen waren die ersten Spinnen auf der Welt. Und bis heute arbeiten sie Tag und Nacht weiter. Sie spinnen ihre starken, hauchdünnen Fäden. Sie spinnen sie zu Netzen, die unsere Welt immer wieder bedecken. Und auch wenn wir ihre Fäden meist achtlos zerstören - ihr Segen bleibt darinnen eingewebt.

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