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St. Kevin und die Amsel


St. Kevin - Glendalough
Foto: C.Süssenbach

In einer Woche, am 20. März, haben wir die Zeit des Frühlings-Equinox erreicht. Die kommenden Tage sind eine Zeit des Gleichgewichts, in der Tag und Nacht gleich lang sind bevor in der nördlichen Hemisphäre die Jahreszeit beginnt, in der das Licht über die Dunkelheit herrscht. Es ist der Beginn einer Zeit des Wachstums, der Kreativität und Fülle. Neues Leben wächst aus allen Poren der Erde und erzählt davon, dass das Leben stärker ist als der Tod. 

Doch Ostern, das Fest des Lebens, kommt erst mit dem ersten Vollmond nach Frühlingsbeginn. Der christliche Kalender zeigt noch Passionszeit an. Eine Zeit, die uns herausfordert, die Balance zu halten zwischen Wachstum und Schmerz, zwischen Licht und Dunkelheit. 

In diesem Jahr fällt es mir schwer, diese Balance zu halten. So vieles ist aus dem Gleichgewicht geraten! Seit mehr als einem Jahr herrscht Krieg in Europa - mit mehr als ungewissem Ausgang. Vor wenigen Wochen hat das Erdbeben in der Türkei uns gezeigt, wie zerbrechlich das Leben sein kann. Und die Vorfreude auf den Frühling wird begleitet durch die Sorge, dass es durch den Klimawandel auch in diesem Jahr wieder am nötigen Regen fehlen könnte.

Das sind jede Menge dunkle Gedanken, die es den kreativen Energien dieser Jahreszeit schwer machen. Vielleicht kennst du solche dunklen Gedankenspiralen?

 

Aber die Liebe zum Leben kann viel ertragen. Davon erzählt eine Legende aus Irland, die Legende vom Heiligen Kevin und der Amsel. Eine Geschichte der Passion, der Leidenschaft für das Leben.

St. Kevin und die Amsel
Bild von Lukasz Rawa auf Unsplash

Kevin war ein komischer Heiliger.

Die Frauen liebten ihn wegen seines guten Aussehens - doch er entschied sich für ein Leben als Mönch.

Er baute in Glendalough in den irischen Wicklow Mountains ein berühmtes Kloster - doch er lebte am liebsten draußen im Wald in einer kleinen, einsamen Hütte.

Von nah und fern kamen die Menschen zu ihm, um ihm zuzuhören und seinen Rat zu suchen - doch er sprach am liebsten mit den Tieren des Waldes.

 

Eines Tages hatte Kevin sich in der Fastenzeit vor Ostern wieder einmal in seine kleine Einsiedelei im Wald zurückgezogen. Die Hütte war nicht viel mehr als ein Unterstand, um Kevin ein wenig vor den Launen des irischen Wetters zu schützen. Der Raum war so klein, dass man gerade eben aufrecht darin stehen konnte. Wenn Kevin zum Gebet seine Arme hob und sie – wie es seine Gewohnheit war – zur linken und rechten Seite ausstreckte, um dem Gekreuzigten die Ehre zu erweisen, dann musste er eine Hand aus dem kleinen Fenster der Hütte strecken.

Es war einer der ersten sonnigen Frühlingstage. Die Amsel im Baum vor seinem Fenster hatte so voller Inbrunst ihr Frühlied gesungen, dass es Kevin nicht länger auf seiner harten, schmalen Holzpritsche gehalten hatte.

In der ersten Morgendämmerung hatte er sich zum Gebet erhoben. Dort stand er nun mit ausgebreiteten Armen - ganz und gar im Gleichgewicht.

 

War es die tiefe Versenkung im Gebet?

Oder einfach die frühe Morgenstunde, die ihn im Stehen wieder einschlafen ließ?

Wer weiß das schon?

 

Als Kevin endlich wieder zurückfand in die Gegenwart dieses sonnigen Morgens, fühlte er das Kratzen kleiner Krallen in seiner Handfläche. In der Hand, die er aus dem Fenster gestreckt hatte, saß eine Amsel und schaute ihn aus dunklen Augen forschend an. Doch da war nicht nur die Amsel. Mit neu erwachten Sinnen spürte Kevin in seiner Handfläche die dünne Schale von drei blau-grünen Eiern, nicht viel größer als Kieselsteine.

 

Wie gesagt: Kevin war ein komischer Heiliger.

Er spürte dort in seiner ausgestreckten Hand die Gegenwart des Göttlichen.

 

Also blieb er dort stehen, dort wo er war und wurde dem Vogel zum Baum, der seine Zweige ausstreckt in Sonnenschein und Regenschauer. Er blieb stehen Tag und Nacht und Nacht und Tag.

All seine Aufmerksamkeit, all seine Liebe richtete sich auf die Hand, die nun nicht mehr eine Hand, sondern das Nest einer Amsel war.

Bald schon spürte er das Kribbeln in seinen geschwollenen Füßen nicht mehr, sondern nur noch das Kitzeln der zarten Füße in seiner Hand.

Er spürte nicht den Schmerz in seinen Schultern,  nicht die die Schwere seiner Armen, sondern allein die grün schimmernde Leichtigkeit dreifach neuen Lebens.

Wenn der Vogel seinen Kopf unter die schwarz-seidenen Flügel steckte, waren die langen nächtlichen Stunden für ihn wie erholsamer Schlaf.

Kurz vor dem Osterfest schlüpften die Jungen und lagen nackig und bloß in seiner Nesthand. Kevin wagte es nicht einmal, den kleinen Finger ein wenig zu krümmen – aus Angst, er könnte aus Versehen etwas von diesem bisschen Leben zerquetschen.

Dieses bisschen Leben in seiner Hand wuchs nun mit jedem neuen Tag.

Kevin fühlte keinen Hunger, fühlte keinen Durst – er wurde satt mit jedem Wurm, der in den weit aufgesperrten Schnäbeln der Jungvögel verschwand. Seine Gebete verschmolzen mit ihrem unablässigen Ruf nach Nahrung.

 

Die Brüder im Kloster machten sich unterdessen einige Sorgen. Sie waren es gewöhnt, dass ihr Abt sich von Zeit zu Zeit allein in die Wälder zurückzog. Aber dass er das heilige Osterfest versäumte, das hatte es noch nie gegeben.

Schließlich schickten sie einen der Novizen los, um nach Kevin zu suchen. Als der junge Mann zu der einsamen Hütte im Wald kam, klopfte er, aber die Antwort blieb aus. Vorsichtig öffnete der Novize die Tür – schließlich wollte er den verehrten Vater Abt nicht im Gebet stören.

 

Draußen hatte die Sonne geschienen, deshalb hatten ihm seine Augen in der dunklen Hütte wohl einen Streich gespielt – so zumindest erklärte er es hinterher seinen Brüdern im Kloster. Für einen kurzen Augenblick hatte er tatsächlich gedacht, er habe drei junge Amseln aus der Hand des verehrten Vater Abt auffliegen sehen. Aber das sei natürlich ganz und gar unmöglich. Schließlich, so meinte der kluge junge Mann, seien Amseln überaus scheue Tiere, die sich kaum in die Nähe von Menschen wagen. Für gewöhnlich würde man eine Amsel ja auch eher hören als sehen – und das auch nur früh morgens, im Frühling, wenn sie ihr Lied singen, um einen Brutpartner anzulocken. Im Sommer würde das Lied der Amsel dann verstummen und die Vögel lebten zurückgezogen und verborgen unter Blättern in Büschen und Bäumen.

  

Kevin hatte nach ihrer Rückkehr ins Kloster wenig gesprochen. Als er den Ausführungen des jungen Bruders lauschte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht und er nickte: „Wenn du es sagst, mein Freund, dann wird es sicher genau so gewesen sein…“.

 

Diese Geschichte findet sich in keiner der mittelalterlichen Heiligen-Biographien über St. Kevin. Sie war aber offensichtlich im 12. Jahrhundert in Irland im Umlauf und wurde von Giraldus Cambrensis (Gerald of Wales) überliefert. 

Glendalough, Wicklow Mountains, Irland
Foto: C. Süssenbach