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Sankt Martin und das letzte Leuchten

Sankt Martin Brauchtum

Morgen ist Sankt Martin. Ich wage zu behaupten: Kaum ein Heiliger erfährt noch immer so viel Beachtung wie Sankt Martin – außer vielleicht Sankt Nikolaus. Und das obwohl nicht mal die Süßwaren-Industrie so richtig von Sankt Martin profitiert. Doch trotz dieses mangelnden Profits gibt es noch immer in vielen Dörfern und Städten am 11. November Laternenumzüge, oftmals angeführt von einem Reiter hoch zu Pferd, der als Sankt Martin mit dem Mantel verkleidet ist.

Ich habe mich gefragt, woher dieses Brauchtum kommt: Die Laternenumzüge und natürlich auch die Martinsgänse, die um diese Zeit gern verspeist werden. Denn unter uns gesagt: Dass der Heilige Martin seinen Mantel geteilt hat und die eine Hälfte einem frierenden Bettler geschenkt hat, ist sicher aller Ehre wert.  Und die Geschichte dazu ist wirklich berührend - ich habe sie selbst oft genug für Kinder und Erwachsene erzählt. Aber reicht das? Der gute Sankt Martin war nun wirklich nicht der einzige Heilige, der sich aufopferungsvoll um die Armen gekümmert hat.

Es muss also noch einen anderen Grund geben, warum Sankt Martin so populär geworden ist. Im Mittelalter war der Martinstag am 11. November der Tag, an dem das bäuerliche Erntejahr endete. Bis dahin war die Ernte eingebracht und die Pacht- und Lehnsabgaben mussten bezahlt sein. Nach Sankt Martin begann die 40-tägige Fastenzeit vor Weihnachten. Das bäuerliche Leben verlagerte sich von den Feldern in die Häuser. Es begann eine Zeit der Ruhe und des Rückzugs in die Innerlichkeit. Und natürlich war der Winter nicht nur eine Zeit der Ruhe, sondern auch der Entbehrung, der Kälte und oft auch des Hungers. Da lag es nahe, es am Ende des Erntejahres noch einmal richtig krachen zu lassen. Noch einmal gab es einen deftigen Braten, die Martinsgans. Auf den abgeernteten Feldern wurden Feuer entzündet, an denen Kinder selbst gebastelte Fackeln aus Stroh entzündeten, um damit durch die Straßen zu ziehen. Später wurden daraus die Laternenumzüge. Es wurde also noch einmal richtig gefeiert bevor dann die Dunkelheit und die Ruhe des Winters einzogen.

 

Unsere Vorfahren waren enger verbunden mit dem Kreislauf der Natur als wir heute. Ihre ausgelassenen Sankt Martins-Feiern waren auch ein Spiegel der Natur, die es um diese Zeit des Jahres auch noch einmal richtig krachen lässt. Wenn ich in diesen Tagen um Sankt Martin an einem sonnigen Tag in den Wald gehe, dann sehen die Bäume (vor allem die Buchen)  aus als wären sie in pures, strahlendes Gold getaucht. Noch einmal sammelt die Natur ihre letzten Kräfte und steckt sie in dieses letzte große Leuchten. Dann dauert es nicht mehr lang und ein kräftiger Herbstwind genügt um alles davon zu wehen. Die Natur lässt los und verabschiedet sich in die Winterruhe, die sie braucht, um im nächsten Frühjahr wieder neu zu erblühen.

 

Ich finde dieses letzte Leuchten hat ungeheuer viel Stil. Ich wünsche mir, dass ich mein eigenes Leben mal so beenden kann – mit einem letzten Fest, einem letzten Leuchten. Aber ich wünsche mir solch eine Kultur des letzten Leuchtens auch für unsere Gesellschaft. Wir feiern meistens nur die neuen Anfänge, aber selten das Ende. Wenn ein Projekt den Schwung verliert, alte Strukturen nicht mehr tragen, eine Beziehung sich totgelaufen hat, dann beenden wir die Dinge oft sang- und klanglos und ein wenig verschämt. So als wäre ein Ende immer eine Niederlage, ein Versagen. Warum fällt es uns so schwer, es noch einmal richtig krachen zu lassen und dann loszulassen? Das Ende anzunehmen und uns die Ruhe des Winters zu gönnen, in der behutsam Neues wachsen kann?

 

Ich bin – ehrlich gesagt – ganz froh, dass ich zu Sankt Martin keine Laternen mehr basteln muss. Meine Kinder sind mittlerweile groß und das Laternebasteln war nie meine Gabe. Aber ich hoffe morgen auf ein paar Sonnenstrahlen und einen Waldspaziergang mit einem letzten Leuchten. Bei solch einem Waldspaziergang kann ich nämlich ganz wunderbar darüber nachdenken, ob es nicht ein paar Dinge gibt, die ich loslassen muss oder möchte – mit einem letzten Leuchten.

 Ich mach das morgen. Und du?